Reise nach Chengdu, China

September 2023

Die Annäherung ist vorsichtig. Etwas misstrauisch auch. Vier Jahre ist die letzte Begegnung her! In der Zwischenzeit geschah mehr Unvorhergesehenes als sonst zwischen uns. Mehr als in den 20 Jahren davor, zumindest.
Die Covid19 Pandemie mit den dadurch weltweit ausgelösten Bewegungseinschränkungen. Die Eskalation des Handels-Machtkonflikts zwischen USA und China. Die Invasion der russischen Armeen in die Ukraine und damit die Ausweitung des bereits schwelenden Krieges. Weltweite Eskalation in digitalen Machtkämpfen um die Informationshoheit. Echokammern und Polarisierung in unseren Gesellschaften.

Wir fliegen gut.

Bei der Ankunft riecht die Luft immer noch vertraut feucht und warm, aber frischer als früher. Kunststück: Der neue Flughafen liegt mitten im Wald. In Bezug auf Luft und Lärm freue ich mich für die Bevölkerung von Chengdu und bedaure gleichzeitig die Bevölkerung des Waldes und der Stadt, die jetzt neben dem Flughafen liegt. Es ist für sie vermutlich sowohl Fluch wie Segen. Die Stadt, Jianyang heisst sie, vormals «unbedeutendes» Hinterland, von Chengdu drei bis vier Überlandbus-Stunden entfernt, ist jetzt ans Chengduer U-Bahn Liniennetz angeschlossen.
Diese neue U-Bahnlinie bringt uns in einer guten halben Stunde die etwas über 50 km ins Stadtzentrum (Die Anzahl der fertiggestellten U-Bahn- und Tramlinien wurde mehr als verdoppelt in den letzten vier Jahren, von 5 auf 13 Linien). Wir sind ausserhalb der rushhour unterwegs, das ist angenehm.

Unten auf dem Fenster das aktuelle U-Bahnnetz, oben im Bildschirm die Reportage über den ersten tibetischen Box-shooting star.

Infos über die unterschiedlich gekühlten Wägen.

Ein neuer «nudging»-Trick (ich war schon oft beeindruckt von solchen) im öffentlichen Verkehr, mit dem die Behörden versuchen, den Menschenstrom (das Stadtzentrum allein beherbergt circa 4.5 Millionen Personen, mit Agglomeration sind es knapp 21 Millionen, Stand 2020) zu leiten, geht so: Die mittleren U-Bahnwagen werden weniger stark gekühlt als die Wagen an den Enden des Zuges. Ziel ist, mehr Passagiere dorthin zu locken und damit eine bessere Verteilung, weniger Gedränge und somit weniger Verlangsamung beim Ein- und Aussteigen in den mittleren Wägen zu erreichen. Die Regel «erst Aussteigen lassen» funktioniert, trotz grossem Effort, auch hier nicht optimal.

Chengdu ist immer noch ein Schlaraffenland. Nicht nur von der Vielfalt der Zutaten und Gerichte selbst, auch von den verschiedenen Formen sie zu essen. Mit Stäbchen, Besteck, Röhrchen, Spiessen, von Hand, von Schilfblättern, aus hohlem Bambus, oder aus verschiedensten Schälchen. Draussen auf dem Bürgersteig, im Garten oder im Park, drinnen mit Ventilator oder klimatisiert, sehr einfach, sehr kompliziert, konservativ oder experimentierfreudig.

All das fällt mir, hungrig unterwegs zu unserem ersten Boxenstopp, besonders auf. Nach Abladen unseres Gepäcks haben wir das gewohnte kleine Halal Lieblingsrestaurant angesteuert, welches zu unserer Freude noch existiert. Von den Plakaten, die an den Wänden hängen, erkenne ich sogar einige noch von vor vier Jahren. Ein paar neue sind dazu gekommen und von den Alten, mit dem Aufruf gegen food-waste, wurden noch ein paar mehr aufgehängt. So, dass die direkt auf die Wand gemalte, schön geschwungene, arabische Kalligraphie nun davon -halb- überdeckt wird. 

Beim Zahlen mit Bargeld komme ich mir weniger «uncool» vor als beim letzten Besuch, eher im Gegenteil. Mein Eindruck ist, dass zwar die Mehrheit mit einem der digitalen Bezahldienste via QR code zahlt, aber nicht die überwiegende Mehrheit. Es geht ein wenig schneller. Nicht viel. Für mich neu ist die Option in der U-Bahn per Gesichtserkennung zu bezahlen. Dazu gibt man dem Menschen im Fahrkartenhäuschen die Telefonnummer an und stellt sich dort vor die Scannerlinse. Der Gesichtsscan wird nach Registrierung von der Software in der Eingangsschranke automatisch erkannt und direkt mit dem Bezahldienst im Handy verbunden, wo der für die Fahrt geschuldete Betrag abgezogen wird. Wichtig ist bei dieser Variante dafür zu sorgen, stets genug Geld auf dem verknüpften Konto zu haben. In unserer Siedlung steht jetzt zum Öffnen des Tores auch die Variante Gesichtserkennung zur Verfügung. Ich bleibe beim Badge. Und bei meiner alten prepaid U-Bahnkarte.

Der Scanner beim Eingang unserer Siedlung. Unter meinem Bild steht: Person ohne Zugangsberechtigung. Ich hab mein Gesicht ja auch nicht registriert.

Wir wohnen in einem lebendigen, alten Quartier am Rande des Stadtzentrums. Auf den Strassen in diesen -für Chengdu- alten städtischen Wohnquartieren ist noch viel Handwerk sichtbar. Und sehr gefragt, von jung und alt, von «blue» und «white» collar, von schick und shabby.
Unsere Nachbarn, eine Schweisser-Familie, lagern den Teil ihres Altmetallvorrats, den sie abends nicht in ihrer Wohn-Werkstatt unterbringen können, immer noch auf ihrem Treppenabsatz und darüber hinaus, unter leichtem Murren des Hausmeisters. Im Quartier verscheucht die Polizei halbherzig die Dreiradküchen von den Trottoirs vor grossen Betrieben. Ob all das tatsächlich «immer noch» ist oder erst seit der Aufhebung der Pandemie-Restriktionen wieder aufersteht? Diese Frage schien aus der Ferne noch wichtig, inzwischen macht sie hier keinen Sinn mehr. In Chengdu gab es kaum «Lockdowns».
Dennoch mussten viele kleine Geschäfte und Betriebe aufgeben und müssen das immer noch, aus finanziellen Gründen. Freunde die in KMU’s arbeiten oder selbst ein KMU aufgebaut haben erleben das hautnah. Die Menschen sparen. Es wird weniger gekauft. Wachstum ist schwieriger geworden.
Was besser funktioniert, berichten sie, sind administrative Vorgänge. Steuererklärungen, Lohnabrechnungen, Anmeldungen und dergleichen sind standardisierter und damit transparenter, einfacher und verlässlicher geworden. Alle Beteiligten könnten nun auch entspannter damit umgehen. Einer Freundin, die sich schon früh selbstständig durchschlug, fällt auf, dass Dinge wie das Verschieben des Geburtsjahres im Personalausweis um ein paar Jahre, wie das zu Ihrer Zeit noch möglich gewesen war, um, beispielsweise, die Busse bei Austragen einer Teenagerschwangerschaft zu vermeiden, nun, auch mit Beziehungen, nicht mehr gingen. Diese Vorgänge seien jetzt standardisiert und die Daten transparent. Elternschaft ist für Frauen erst ab 20 Jahren und für Männer ab 22 Jahren legal. Eine Massnahme zur Armutsbekämpfung. Sie hat es geschafft. Ihre beiden Töchter haben gute Jobs (bei Huawei) gefunden und konnten in die Mittelklasse aufsteigen.

Die ersten Tage bin ich oft allein unterwegs. Mache Spaziergänge an altbekannte und neu bebaute Orte, lese viele der Texte, die überall in der Öffentlichkeit hängen.
Vor Spielsalons warnt die Polizei auf Transparenten freundlich vor Glücksspielen und Heiratsschwindlern im Internet (chinesischstämmige Banden sind in diesem Geschäft überregional aktiv, in den letzten Tagen ist ein Ring in Singapur aufgeflogen, lese ich in meiner Hongkonger Zeitung). Vor Restaurants weist sie auf Plakaten darauf hin, dass bei Prügeleien der Verlierer im Spital landet und der Gewinner im Gefängnis. Über die Höhe der Bussen je nach Schwere der Verletzungen wird darauf ebenfalls informiert.
Ein anderes Plakat weist auf den Wert des Lebens und die Zerstörungsmacht von Drogen hin.
Auch andere städtische Behörden propagieren auf Plakaten. Oft geht es dabei explizit um den Aufbau einer «geistig zivilisierten Gesellschaft». Diese Botschaften sind meist in grösseren Dimensionen, an Mauern, Wänden und Baugerüsten angebracht.

Aufruf zum Aufbau einer geistig zivilisierten Gesellschaft des städtischen Büros für ebendies. Bilder und kurze Merksprüche geben Anleitung zur Pflege der psychischen Gesundheit, des persönlichen Wohlbefindens und jenem der Familie. Daneben sind links die 12 Punkte des «Zivilisierungspakt der Bürger von Chengdu» in Versen abgedruckt, rechts die «12 Kernwerte des Sozialismus». 

Die häufigsten behördlichen Werbungen sind nach wie vor (vier Jahren) die Propagierung der ebenfalls 12 «Kernwerte des Sozialismus» und die Aufforderung zum Umbau zu einer grüneren, ressourcenschonenden Wirtschaft bzw. zu umweltschützendem Verhalten. Diese Werbungen stehen auf Wänden, an Gerüsten auf Transparenten, manchmal auf Denkmälern, oder, eben, auf Plakaten. Es gibt Plakate in verschiedenen Stilen, von den verschiedenen Betrieben oder Behörden. Die von einer grossen Baufirma sind wie grosse Ankündigungen, die von den ÖV hier eher verspielt. Eine der Plakatserien zum Thema Umwelterziehung ist künstlerisch besonders schön gestaltet. Die wurde von den Zentralbehörden herausgegeben.

Plakat der Zentralbehörden in Beijing vor einer Schule. Der Text sagt: In einer Sekunde (aus Deiner Hand) verschwunden. In 200 Jahren (aus dem Boden) verschwunden.

Wichtige Themen. Auch gute Botschaften, eigentlich, finde ich. Ob sie noch gelesen werden, diese Parolen, frage ich mich, bei der Überflutung? Ob die Slogans etwas bewirken? Meint irgendjemand sie wirklich ernst? Vielleicht schauen viele, vor allem junge Leute in der Öffentlichkeit eher auf T-shirt slogans und ins Handy als auf Plakate und Transparente, egal wie schön sie gemacht sind? Vor dem

konstanten Schauen aufs Handy wird im Übrigen auch oft gewarnt, vor Allem bei den Warnhinweisen zur Benutzung von Rolltreppen und beim Ein, Aus und Umsteigen in U-Bahnhöfen. Ich sehe dieses Mal auf den Strassen, das heisst «offline», kaum Partei- oder sonstige Politparolen. Es steht allerdings auch grad kein besonderes Parteievent an.
Mich, die inzwischen mittelalte Besucherin und Eindruckssammlerin, beschäftigt diese Art von Propaganda. Es geht darum, woran wir uns orientieren. Und woran die hier staatslenkende Partei, die weg will von ihrem Image als Avantgarde des Turbokapitalismus, will, dass das Fussvolk (das hier sind Strassenplakate) sich orientiert. Von verschiedenen Behörden herausgegebene Plakate sprechen verschiedene Bevölkerungsteile an.
Ich rufe mir immer mal wieder die Dimensionen hierzulande in Erinnerung, denn sie gehen, mangels Vorstellungsvermögen, schnell vergessen. Von den gut 1400 Millionen (=1.4 Milliarden) Menschen im Land (immer noch knapp 20% der Weltbevölkerung) sind circa 98 Millionen Mitglied in der Partei (27% der Mitglieder kommen aus Berufen mit höherer Bildung, 26% aus der Land und Weidewirtschaft, 19% sind Pensionäre. Arbeiter kommen mit knapp 7 % hinter den Regierungsangestellten mit gut 7 %).

Ich geniesse den Fluss, das gefühlte Fliessen, in dieser Stadt. Das entsteht nicht nur durch die Menge der Menschen. Ich empfinde es als eine Art, unser menschliches Zusammenhängen viel mehr als Selbstverständlichkeit anzunehmen, als ich es bei uns wahrnehme. Vielleicht kommt die Idee der Schwarmintelligenz dem Nahe. Das eigene Dasein, die eigene Rolle, als Teil eines Schwarms genauso zu akzeptieren wie das Dasein als Individuum. Ich erinnere mich an meine lange Zeit in China, während der mir genau dies manchmal zu viel wurde. Ich fühlte mich davon gefesselt, in meiner Individualität eingeschränkt, wenn die Bedürfnisse der Gruppe, zu der ich gezählt wurde, ungefragt (eben, selbstverständlich) als meine Bedürfnisse betrachtet wurden.
Jetzt, als gestandene Besucherin, geht es mir nicht so. Mir kommt genau diese Dualität immer wieder in den Sinn. Ich halte unsere persönliche Fähigkeit und die Fähigkeit einer Regierung immer wieder -rechtzeitig- Ausgleich möglich zu machen zwischen Entscheidungen zugunsten des ganzen Schwarms und Entscheidungen zugunsten seiner verschiedenen Teile bis hin zu den Individuen für eine Kernkompetenz bei unserem menschlichen und überhaupt planetarischen Zusammenleben. Dieses Mass entscheidet womöglich über Krieg oder Frieden.

Freunde die im Gesundheitswesen in grossen Spitälern arbeiten, erzählen was es für sie hiess die täglich unglaublich hohe Zahl an PCR-Tests an unglaublich vielen Personen durchführen zu können: Unglaublich viel Freiwilligeneinsatz (würden wir eher sagen Überstunden?) von Spitalangestellten aller Ebenen, die dafür sorgten, dass die Menschen möglichst reibungslos durch den ganzen Ablauf geschleust werden konnten und damit die Sicherheit von Allen besser gewährleistet würde. Sowohl wir wie unsere Freunde erinnern uns an den Tod eines Medizinstudenten, der, hier in dieser Stadt, trotz seiner Covid Erkrankung weiterarbeitete und dann vor Erschöpfung, bzw -vermutlich- in Folge einer Herzmuskelentzündung starb. Aus der Sicht unserer Freunde scheint sein Tod ein tragischer Fall von jugendlicher Selbstüberschätzung und keine Folge von «Arbeitszwang» durch die Spitalbehörden. Aber, wer würde schon beiseite stehen wollen, stehen können, wenn alle helfen, die Herausforderung zu meistern? Ob dieser Gruppendruck durch die Spitalbehörden besser hätte abgefangen werden können? Von den durch diesen Todesfall ausgelösten Protesten gegen zu wenig Schutz vor Überarbeitung seitens der Spitalbehörden wurde auch bei uns berichtet.
Sie erzählen von ihren Entwicklungspartnerschaften zur Armutsbekämpfung. Angeleitet durch die Abteilung für Armutsbekämpfung der Provinzbehörden, haben sie zwischen ihren städtischen Spitälern und abgelegenen, wirtschaftlich armen Dörfern Partnerschaften mitaufgebaut. Sie haben erfahren, wie über Jahre des regelmässigen Kontakts aus -oder trotz- gegenseitigem Misstrauen mehr oder weniger erfolgreiche Kooperation im Sinne von nachhaltiger Wirtschaftsförderung entstehen kann, mit der die lokal generierten Einkommen im besten Fall steigen. Auf meinen Reisen habe ich einige solcher Projekte kennengelernt. Von den ersten Anfängen mit fast völligem aneinander Vorbeireden bis zur Verständigung über für beide Seiten mancherorts mehr, mancherorts weniger annehmbaren Kompromissen. Die Fragen schienen damals oft einerseits: Wie kann ich meine Kultur gewinnbringend «verkaufen» und sie gleichzeitig behalten? So dass auch meine Kinder sie noch schätzen? Und andererseits: wie können wir die lokalen Ressourcen wie Natur und Kultur touristisch attraktiv präsentieren um Investoren dafür zu finden und schliesslich die lokalen Einkommen zu erhöhen? Im hochgebirgigen Westen von Sichuan, wo viele dieser abgelegenen Dörfer sich befinden, leben vor allem Angehörige der tibetischen, der Yi, der Qiang und anderen nicht-Han-chinesischen Kulturnationen.
Die Bevölkerung kleinerer Städte und Landschaften des fruchtbareren Hinterlandes, zum Beispiel Jianyang, die neue Flughafenstadt, sind wie die Bewohner der Metropole Chengdu mehrheitlich Han-Chinesischer Kulturnationalität.
Diese Orte zählen nicht mehr als arm. Aber als Hinterland. Der Strom, der durch im Überfluss vorhandene Wasserkraft produziert wird, wurde in den letzten Jahren im Sommer oft rationiert um den Bedarf der Metropolen zu decken.

Eine ebenfalls in einem grossen städtischen Spital arbeitende Freundin berichtet, dass diese es jetzt endlich wagen sich gegen organisierte, unberechtigte Forderungen, meist von Familien aus dem Umland, zu wehren. Wenn zum Beispiel die Familie eines an Krebs verstorbenen Patienten mit dem gesamten Klan das Spital blockiert um die Streichung von verbliebenen Spitalkosten zu erreichen mit dem Argument, dass die Behandlung nicht erfolgreich war. Bis vor Kurzem hätten die Spitäler in solchen Fällen meist einfach die Rechnungen abgeschrieben um weitere Konfrontationen und schlechte Presse, zu vermeiden. In den letzten Monaten aber hätten sich solche Fälle gehäuft und seien eskaliert, bis dahin, dass Spitalangestellte bedroht, angegriffen und sogar ermordet worden seien, von ausser sich geratenen Angehörigen. Jetzt erstatteten die Spitaladministrationen vermehrt Anzeige, gingen den juristischen Weg um vor dem Missbrauch ihres «goodwills» abzuschrecken.
Bereits seit vielen Jahren wird die andere Seite des Problems, also Fehlverhalten der Spitäler und ihrer Verwaltungen, in Zeitungen und in den sozialen Medien angeprangert. Nun nehmen die Berichte über tätliche Angriffe von Angehörigen auf Ärzte ebenfalls zu.
Auch andere Freunde haben organisierte Betrugsversuche erlebt. Zum Beispiel mit vorsätzlich herbeigeführten kleineren Verkehrsunfällen (Velo-Auto) und dann vorgetäuschten Beschwerden Entschädigungszahlungen zu erschwindeln. Auch auf Kameras sei nicht jeder Vorgang klar ersichtlich und im Zweifel müssen die Halter des stärkeren Fahrzeugs, das heisst des Autos, zahlen. Ein Freund konnte einen solchen Betrugsfall aufdecken. Anderswo in der Stadt, nämlich vor der Liegenschaftenverwaltung, werden wir zufällige Zeugen eines Protestmarsches von Menschen die lautstark im Chor und auf Plakaten das Geld zurückfordern, dass sie in ein Altersheim investierten hatte, welches dann nicht gebaut wurde. Wir wechseln mit unserem Gesprächsthema in die Politik.

Ja, Angst vor Missbrauch der Bürgerdaten, von denen so viele, in den verschiedensten Zusammenhängen erfasst werden, ist da. Im Vergleich zur Angst vor dem Machtmissbrauch und der Kriminalität, die ohne die Transparenz durch Überwachung so viel leichter möglich und an der Tagesordnung waren, scheint die Überwachung jedoch bisher für Viele das kleinere Übel (Für alle meine Gesprächspartner zumindest). Die Sicherheit im Äusseren, also vor Diebstahl, vor Überfällen, vor offensichtlichem Amtsmissbrauch sei deutlich grösser geworden.
In Bezug auf die Sicherheit im Inneren-bin ich nicht sicher (Sind wir da sicherer?)

Der Ausgleich der Einkommens- und Chancenschere innerhalb Chinas, «die Behebung von Armut», die Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen, vor Allem Universitätsabsolventen, die inländische Ressourcenverteilung und Sinn und Unsinn verschiedener Regierungsstrategien im Landesinneren (alle meine Gesprächspartner sind der Ansicht die Covid19 Massnahmen seien im letzten Jahr aus dem Ruder gelaufen und zum Politikum auf Kosten der Bevölkerung geworden, alle empfinden den erhöhten Druck zur Parteilinientreue als Rückschritt), die Entwicklungen im Ukrainekrieg und die als unfaires Ausbremsen empfundenen «Massnahmen der USA zur Verhinderung von Chinas weiterem wirtschaftlichen Aufstieg» im Äusseren, sind in unseren Diskussionen über China und die Welt die gewichtigeren Themen.

Unsere Gespräche sind spannend und oft sehr offen. Wir sind froh, dass endlich wieder direkte Begegnungen möglich sind. ich habe den Eindruck es geht auch meinen Freunden so. Und doch halten wir uns auch manchmal zurück. Wir möchten unseren wertvollen Austausch nicht aufs Spiel setzen. Dann, wenn es spürbar ist, dass viel zwischen uns liegt. Die konfrontative politische Weltlage im Äusseren und der durch die Aufrufe der Partei zu absoluter Loyalität erhöhte Druck auf Bürger in exponierten Positionen zur Linientreue durch die aktuelle chinesische Regierung im Inneren.
Ich empfinde es so, dass die verschiedenen «Fronten», hier vor allem «der Westen» und «China», gegenseitig ihr Bedroht-sein durch den jeweils Anderen aufbauschen.
In ein paar Stunden lässt sich nicht alles erklären.

Die Leuchtschrift am Tibetisch-Medizinischen Spital «Meer des Nektars der Unsterblichkeit» (in der tibetischen Medizin verweist dieser buddhistische Begriff auch auf Arzneipflanzen) in Chengdu
bei Nacht

Mit zwei alten Freunden sitze ich in einem uighurischen Restaurant. Beim Schreiben schon empfinde ich, wie ungewohnt das vielleicht scheint. Ja, neben den vor Intransparenz und Willkür schreienden Vorfällen von Machtmissbrauch, von Kollektivstrafen, im Rahmen der Repressionsmassnahmen gegen vermutete oder tatsächliche islamistische Verschwörer in Xinjiang von denen bei uns berichtet wird, gibt es auch friedliches Zusammenleben. Das eine macht das andere nicht besser. Aber auch nicht schlechter. Wir geniessen Lammspiesse, Fladenbrot und andere Spezialitäten, trinken Ziegeltee. Einer von meinen Freunden hat gerade seine 45 Tage Kaderschulung der Partei hinter sich. Er hat vor einigen Jahren eine leitende Funktion in einem Wissenschaftsbetrieb übernommen, da gehören solche Kaderschulungen aktuell alle drei Jahre dazu. Mitglied in der Partei ist er nicht, das wird nicht verlangt. Im Gegenteil, es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass in allen Gremien (ab welcher Grösse oder in welchen Bereichen weiss ich nicht) auch ein gewisser Prozentsatz parteiloser Personen oder solche, die einer der kleinen, der «Mutterpartei» untergeordneten Parteien angehören, dabei sind. Er war allerdings der Einzige Parteilose in seinem Kaderkurs.
Der politische Trend zu «Konservatismus» bedeutet hier in China die Reorientierung an den «ursprünglichen» Zielen der sozialistischen Revolution: Armutsbekämpfung (bis alle mindestens einen bescheidenen Wohlstand erreicht haben) und Wirtschaftsförderung. Das sei nur möglich unter der unbedingten Führung der kommunistischen Partei, sagt die aktuelle Regierung. Ob so oder anders zu erreichen, dieses Ziel ist hochgesteckt und sollte überall so hochgesteckt sein, finde ich. Ich frage mich ob die Strategie der aktuellen Regierung, mit erhöhtem moralischem Druck zur Parteiloyalität die Korruption ihrer Ziele zu verringern, erfolgreich ist. Im realen Leben kann daraus schnell werden: wer nicht explizit für uns ist, ist suspekt. Wer wagt es schon suspekt zu sein?

Bei manchen Leuten in höheren und somit von mehr Menschen sichtbaren Positionen, bewirkt dieser politische Trend spürbar mehr Zurückhaltung bei der Meinungsäusserung, sogar in relativ privatem Rahmen. Ob die dadurch drohende Einengung der öffentlich, also auch in Arbeits- und Bildungsstätten, diskutierten Blickwinkel durch die vielen neuen Kommunikationskanäle im Internet aufgewogen und damit verhindert werden kann?
Eine junge Freundin empfindet im direkten Kontakt mit Anderen keinen verstärkten Druck zur Selbsteinschränkung. In den sozialen Medien nehme sie jedoch wahr, dass kritische Posts schneller von der Zensur entfernt werden. Das allerdings heisst nicht, dass keine kontroversen Diskussionen im Netz stattfinden. Vor ein paar Tagen, wurden nach Bekanntmachung eines neuen Gesetzesvorschlags innerhalb einer Woche 70’000 Einwände dagegen auf social media Seiten publiziert. So dass die Regierung sich öffentlich dazu äusserte, sich für das «wichtige Engagement der Bürger» bedankte und versprach, die Einwände alle zu prüfen um sie bei der Arbeit an der Verbesserung des Gesetzesvorschlags miteinzubeziehen. Es ging um eine erweiterte Definition des Vorwurfs eines «öffentlichen Ärgernisses» rund um den Begriff «Verletzte Gefühle» in der Viele einen zur Willkür einladenden Paragraphen sahen.

Im Fernsehen habe ich noch nie kontroverse Diskussionen erlebt. Gesellschaftssatire jedoch schon, ebenso gesellschaftskritische Serien. In den letzten Tagen schaute ich einige Folgen der Fernsehserie über die Entwicklung der Chinesischen Atombombe während der 60 und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Wüste Gobi. Beeindruckt hat mich vor Allem die Darstellung der Zeit der Kulturrevolution. Die Idee die elitäre Bildungskultur umzustürzen und deren Positionen durch nicht-elitäre Revolutionäre zu besetzen um die Gesellschaft unter deren Führung gerechter zu machen, wurde durch die Figur eines fanatisierten und auch machthungrigen Rotgardistenführers verkörpert, der, mit dem Segen der Zentralregierung ausgestattet, von seiner Gruppe gefolgt in die abgelegene Forschungsstation vorstiess, die beiden leitenden Wissenschaftler absetzte, eine davon ohne Beweise der Spionage beschuldigte und verhaften liess und die Unsicherheit, die Begeisterungsfähigeit und den Ehrgeiz eines der jungen Nachwuchswissenschaftler so ausnutzte, dass er sich gegen seine Professoren instrumentalisieren liess. Diese Ereignisse, brachten die gesamte Forschung zum Erliegen und führten beinahe zum Verlust der bisherigen Erfolge. Schliesslich endete die Phase mit der Rückkehr der Vernunft.

Oft schauen wir abends im Fernsehen internationale Nachrichten und in politische Tagesthemen. Mir scheint, der Fokus liegt stärker als bei uns auf Zusammenhängen. Die verschiedenen Interessen und Strategien von Staaten werden jeweils ausführlich diskutiert, ähnlich wie bei der Diskussion eines Schachspiels. Bereits die Wahl der Themen und Staaten, die Aufmerksamkeit bekommen, spielt eine Rolle bei der Interpretation. Gestern hörten wir in der Sendung «China’s Plattform für die öffentliche Meinung» zum Thema Krieg zwischen Russland und Ukraine eine Stunde lang Fragen von eingeloggten Zuschauern und Antworten aus der Expertenrunde. Bis zum Schluss der Sendung war die angezeigte Zahl der Teilnehmenden auf über eine Million angestiegen.

Oben rechts die Anzahl eingeloggter Konti. Darunter die Bildlegende: Information der gemeinsamen Manöver der USA und Südkorea. Links die gerade diskutierten Fragen:
-Wie ist die aktuell von Nordkorea gezeigte Haltung bezüglich seiner Beziehung zu Russland zu interpretieren?
-Was hat es in jüngster Zeit bei der Situation auf der (koreanischen) Halbinsel für Entwicklungen gegeben?
-wie ist die Wahl des Zeitpunkts für den Stapellauf des ersten Nordkoreanischen Atomwaffenfähigen Kriegs-U-Bootes einzuordnen?
Unten: Experte: …die Teilnahme des US-Flugzeugträgers am Manöver im gelben Meer hat stark «Öl ins Feuer» giessende Bedeutung

Ethik oder Moral wird nicht explizit angesprochen. Die Diskussionen fokussieren stattdessen auf der Dynamik zwischen den Staaten. Wer, wo und mit welchen Mitteln, sei es Waffengewalt, Finanzierung, oder Diplomatie, versucht seinen Einfluss zu vergrössern und damit an Macht zu gewinnen. Es wird analysiert wie erfolgreich die jeweiligen Akteure damit sein könnten und zu welchem Preis. Die Kosten der jeweiligen Aktionen werden genannt, der Wert von produzierten, gelieferten und verschossenen Waffen, von Direktinvestitionen, von Subventionen. Wieviele zivile Opfer vermutet und gemeldet werden.
Die Analyse des Verhältnisses zu Taiwan und seiner Entwicklung, sowie das «bashen» der -aktuell regierenden- Demokratischen Partei und ihrer Vertreter kombiniert mit positiven Berichten zu den Vertretern der Republikanischen Partei Taiwans findet seit Jahren täglich in einer eigenen Sendung zum Thema statt. «Die beiden Küsten am Kanal» (bezieht sich auf den Kanal zwischen Festland und Taiwan) heisst sie. Die Wähler der Demokraten sprechen sich tendenziell für die öffentliche Erklärung von Taiwans politischer Unabhängigkeit von China, die Wähler der Republikaner sprechen sich tendenziell für das Aufrechterhalten der Vereinbarung «Bewahrung des status quo» aus (nach der die de facto Unabhängigkeit Taiwans von China akzeptiert wird, solange Taiwan keine öffentliche Unabhängkeitserklärung abgibt, mit der Perspektive dass irgendwann die Zeit reif wird für eine friedliche Vereinigung von Insel und Festland). Bei uns ist diese Vereinbarung bekannt als das «Ein China» Prinzip, zu dem sich die grosse Mehrheit der Staaten bekannt hat.
Die vom Chinesischen Aussendepartement geäusserte Forderung, von den USA bei der wirtschaftlichen Weiterentwicklung nicht behindert zu werden ist ein täglich gesendetes Statement.

Bei meinen abendlichen Spaziergängen sehe ich auf den Strassen und Plätzen viele Menschen tanzen. Mindestens so häufig und zahlreich wie vor der Pandemie. Von Aerobics über traditionellem Tanz zu klassischem Gesang zu tibetischem Kreistanz gibt es verschiedenste Gruppen auf den vielen Plätzen in den Quartieren und an grösseren Strassenkreuzungen. Nur in den Parkanlagen innerhalb von Wohnsiedlungen wird nicht getanzt. «Dort wird nur spaziert» sagt meine Freundin. Offiziell untersagt ist das öffentliche Tanzen während der nationalen Hochschulprüfungen, um die Konzentration und die Nachtruhe der SchülerInnen nicht zu stören.
Im Schatten vor dem nahegelegenen Königsgrab-Park begegnete mir gestern bereits am Vormittag eine kleinen Kreistanzgruppe, auf einer Plaza im Stadtzentrum am Nachmittag ein Paar beim Tangounterricht. Morgens finden sich auch Taijiübende in Gruppen zusammen.

Eine besonders engagierte, verbeamtete Freundin möchte sich frühpensionieren lassen. Das ist hier für Frauen ab 50, für Männer ab 55 Jahren möglich. Allerdings hängt es natürlich von der Höhe der Rente ab, ob sich jemand das leisten kann. Meine in eher tieferen Lohnsegmenten der Privatwirtschaft arbeitenden Freunde werden noch lange über dieses Alter hinaus arbeiten müssen.
Die Beamten verschiedenster Bereiche aus der nächstjüngeren Generation, denen ich on- oder off-duty begegne, machen mir einen zufriedenen und meist offenen, entspannten Eindruck. Sie konnten sich in einer unendlich grossen Zahl an Bewerbern durchsetzen und haben nun ein sicheres Ein- und damit Auskommen. Diesen Zusammenhang kann ich nur vermuten. So abwegig scheint er mir aber nicht, ganz besonders seit den letzten Jahren in denen sehr viele UniversitätsabsolventInnen ohne Doktortitel grosse Schwierigkeiten haben feste Stellen zu finden und auch sonst viele junge Menschen von Gelegenheitsjobs leben. Oder haben diese jungen Beamten sich nur noch nicht aufgerieben?

Ich verbringe den Nachmittag mit einem bald 90-jährigen Freund. Auf Wunsch seiner Familie hat er ein Handy, er selbst hätte lieber darauf verzichtet. Elektrotechnik ist ihm grundsätzlich suspekt. Er fühlt sich von den Mitteilungen und sonstigen Tönen gestört und überwacht. Doch inzwischen nutzt auch er die Möglichkeit, darin Nachrichten zu lesen. Seine Bankgeschäfte erledigt eine Tochter für ihn.
Wie machen das wohl all die alten Menschen? Viele sind auf Hilfe bei der digitalen Kommunikation angewiesen. Andere weigern sich. Zwei mir bekannte Seniorinnen verweigerten auch während der Pandemie die Registrierung im «Ampelsystem» (Rot bedeutete, ein enger Kontakt mit einem positiv getesteten sei registriert worden, dann durfte im Prinzip die Wohnung nicht verlassen werden), und kamen durch damit. Eine indem sie alles, auch Tests, verweigerte, zu Hause blieb und sich alles Nötige von Verwandten bringen liess; die andere indem sie darauf bestand als Seniorin auch ohne Handy unterwegs sein zu dürfen. Der Respekt vor dem Willen von SeniorInnen ist hier grundsätzlich hoch. Seit den letzten Jahren wird aber der oft absolute Anspruch auf Respekt von SeniorInnen in der Gesellschaft zunehmend in Frage gestellt.
Erstmals wurde eine grosse Fernsehserie ausgestrahlt in der die gesellschaftlich hochgeschätzte und erwartete Betreuung und von betagten Eltern durch deren Kinder auch kritisch beleuchtet wurde. Die meist auf den Töchtern und Schwiegertöchtern liegende Last, sich neben der Familien- und Lohnarbeit um teils rücksichtslos bis hin zu unverschämt handelnde Senioren zu kümmern, war das Hauptthema der Serie. Sie löste in sozialen Netzwerken grosse Diskussionen aus. Die Gesellschaft ist hier, wo zur höheren Lebenserwartung noch die Jahre der Ein-Kind-Politik kamen, noch abrupter gealtert.

Als ich ankomme ist mein betagter Freund in heller Aufregung. Eine Nachricht auf seinem Handy habe ihm mitgeteilt der dritte Weltkrieg sei ausgebrochen. Ob wir einen Notvorrat an Reis anlegen sollten? Gemeinsam analysieren wir die Situation, vergleichen mit den Nachrichten auf meinem Handy, suchen und finden nichts dergleichen auf Seinem. Entwarnung. Ein Traum? Ich stelle mir vor, die Bannernachrichten, die ununterbrochenen und schnell während der Nachrichten am Fernsehen vorüberziehen, könnten sich in der Erinnerung auch zu einer solchen Miss-Information zusammenfügen: grösstes Manöver seit dem kalten Krieg…Kim Yong Un bietet Putin Waffen an…Atomwaffenfähiges U-Boot in Betrieb genommen…USA… Waffenproduktion…USA will uranangereicherte Bomben in die Ukraine liefern…Dronenkrieg…weltweiter Einsatz…Zusammen mit den «breaking News»: USA dringen in das Netz der Universität für Luftfahrttechnik in Xi’an ein…
In der U-Bahn sprach ich vor ein paar Tagen mit einem von mir circa 40-jährig geschätzten Sitznachbarn über die politische Weltlage. Zunächst hatte ich ihm mitgeteilt, dass ich sein Mitlesen meiner handynachrichten als aufdringlich empfand. So kamen wir ins Gespräch. Nachdem er mich fragte, ob ich an Politik interessiert sei, diskutierten wir unsere unterschiedlichen Einschätzungen von Amerikas Rolle in der Welt. Er sah Amerika vor Allem als «trouble-maker», in der Rolle des grössten Waffenverkäufers -und daher Kriegstreibers in Eigeninteresse- der Welt.
Als Beispiel für den schlechten Einfluss Amerikas in der Welt zeigte er mir eine animierte Karte des Pazifiks auf dem das gesamte Meer von Japan ausgehend in Endlosschlaufe zunehmend gefährlich grellrot zu leuchten begann. «Auch dieses Verbrechen wird von den USA unterstützt». Das Internet scheint überall auf der Welt voller Panikmache bei der reale Probleme zur Aufscheuchung, bis hin zur Aufhetzung von Menschen «drastifiziert» werden. Es gibt mit Sicherheit viel «krassere» Filmchen.
Mein betagter Freund analysiert die Sache inzwischen für sich so: Der dritte Weltkrieg ist tatsächlich bereits ausgebrochen, findet aber nicht überall gleich intensiv statt. China ist bisher nicht im Zentrum des Geschehens, deshalb müssen wir uns im Moment keine grossen Sorgen machen und können noch in Ruhe unserem alltäglichen Leben nachgehen.

Als Besucherin ist der Alltag für mich hier sehr gemütlich. Überall sind Menschen geschäftig, stellen etwas her, bieten etwas, oft etwas Neues, an. Zum ersten Mal in meinem Leben esse ich von diesen früher die Gassen verrauchenden Grillspiessen. Sie werden inzwischen nicht mehr auf Kohlen zubereitet und es gibt viele vegane Varianten: schwarzer oder weisser Stinktofu (fermentiert, ähnlich wie sehr reifer Käse), marinierter Tofu, Seitan (Weizeneiweiss) in verschiedenen Varitionen und alles mögliche Gemüse.

Wieder beschäftigen mich die auf Schritt und Tritt zu sehenden öffentlichen Aufrufe zu «zivilisiertem Verhalten» um eine «zivilisierte Gesellschaft», eine «zivilisierte Nation» in jeglicher Hinsicht zu werden, zu sein. Die 12 Kernwerte (unter ihnen Freiheit, Rechtstaat, Demokratie), Kultur, Ethik, Zivilisationsvertrag, Umweltbewusstsein, Recycling.
Wie erscheinen jungen, gebildeten Menschen solche «plakativen» Aufrufe? Parolen, ohne Inhalt, sagt mir eine junge Frau. Und deshalb ein Hohn.
An wen sind sie gerichtet?
Nach Gesprächen mit Menschen, die in ihren Familien zu den ersten gehören, die aus ländlicher Armut in die städtische untere oder mittlere Mittelklasse «aufgestiegen» sind, zu den ersten gehören, die eine höhere Bildung oder überhaupt eine schulische Bildung erhalten haben, habe ich den Eindruck, diese Gruppe Menschen sind vielleicht die wichtigste Zielgruppe solcher Aufrufe.
Zwei in kulturell sehr unterschiedlichen Regionen aufgewachsene Freundinnen von mir, die zu dieser Gruppe gehören, haben sich beide aus Partnerschaften, in denen sie von ihren Männern geschlagen wurden, befreit. Für beide war es ein sehr langer Prozess. Ihre Männer, die wie sie selbst, in armen Familien mit kaum oder ohne Schulbildung aufgewachsen waren, erachteten das Schlagen ihrer Frauen nicht als verwerfliches Verhalten. Sie sahen sich deshalb auch nicht in der Verantwortung, sondern im Gegenteil, als Opfer, da sie Verlassen wurden. Beide Frauen wurden von ihren gut ausgebildeten Töchtern ermutigt und unterstützt, ihre Männer, die Väter dieser Töchter, zu verlassen. Die Töchter griffen in beiden Fällen ein und waren (mit-)entscheidend, dass es zu einer Trennung kam.
Die Mütter der Beiden, von den Vätern weiss ich es nicht, waren beide gegen eine Trennung.

in den letzten circa 40 Jahren fand eine enorme Verschiebung von Menschen statt. Menschen kamen aus der ländlichen grossen Armut in die Städte, wo sie weniger arm lebten oder sogar in die untere Mittelklasse aufsteigen konnten.
Diese Bewegung wurde und wird von der Zentralregierung gefördert durch Ausgleichszahlungen von den reichen zu den armen Regionen zur Wirtschaftsförderung in regionalen Zentren, durch die Zulassung von selbstständiger «Binnenmigration», also von sogenannten WanderarbeiterInnen und in den letzten 25 Jahren nochmals verstärkt auch durch Einzonung von Landwirtschaftsland im Umkreis von Städten und durch massive nationale Infrastrukturprojekte (Autobahnen, Hochgeschwindigkeitszüge, Staudämme u.a.). Letztere erleichtern die Binnenmigration. Durch die Überbauung ihrer Dörfer wurden jedoch auch viele Menschen zur Umsiedlung gezwungen. Das hat die grosse ländliche Armut stark reduziert, hat aber ebenfalls zum Aufeinanderprallen von extrem verschiedenen Wertvorstellungen und zu grossen sozialen Spannungen und Konflikten in den städtischen Agglomerationen geführt. Der Umgang mit Gewalt sowohl in der Familie wie in der Öffentlichkeit ist ein Teil davon. Ich sehe all diese Aufrufe zu «zivilisiertem» Verhalten- auch- in diesem Zusammenhang. Von wem sie gelesen werden, frage ich mich immer noch.

Die 12 Kernwerte hier je zwei in einer Wolke vor einem Park, zwischen Statuen von historischen Figuren.

Es ist angenehm warm hier bei noch 25 bis etwas über 30 Grad in diesem September. Nur Nachmittag’s sticht die Sonne etwas, wenn ich ohne Hut oder Sonnenschirm unterwegs bin. Ich hatte Chengdu in den 90er Jahren begeistert als Velostadt kennengelernt. Die Privatwagen- und damit Strassenausbau-Explosion während der Nullerjahre hatte brachte den Veloverkehr praktisch zum Verschwinden. Erst mit dem e-bike und e-töffli boom in den letzten 10 Jahren wurden Zweiräder langsam wieder sichtbar im Strassenbild. Jetzt, mit vier Jahren Abstand, scheint die Zunahme auch von sportlichen, nicht-motorisierten Velos, zwar noch kein Vergleich zum Velo-Pendlerverkehr früher, aber doch ziemlich gross.
Vor drei Jahren wurde in Chengdu der Velorundweg «Tianfu Greenway» eröffnet. Das ist ein breiter, auf einem Grünstreifen angelegter Veloweg, der auf einem Umkreis von circa 100 km rund um Chengdu gebaut ist. An neun Stellen verbreitert sich der Grünstreifen zu einem Park. Wir haben es gut, der Greenway führt ganz nah an unserem Wohnort in der Agglomeration vorbei. Wir sehen ihn schon vom Balkon aus. Diesen Weg ein Stück weit per Velo zu erkunden war ein Highlight (eine ganze Runde haben wir dieses Mal noch nicht geschafft).
Ein gut informierter Freund erzählte uns diese Geschichte dazu: Die städtischen Behörden seien im Rahmen des Besuches einer Delegation der zentralen Behörden (aus Beijing) bei denen ihnen der Greenway vorgestellt wurde, zwar für das Projekt selbst gelobt, dafür, dass sie den Grünstreifen als reinen Park konzipiert hatten, aber gerügt worden. Um die reklamierte «Verschwendung» von fruchtbarem Boden zu reduzieren, wird nun entlang des Velowegs teilweise Gemüse, Reis und Mais angebaut. Neue Tafeln erklären uns, den Vorbeiradelnden oder Ausruhenden, nun die landwirtschaftlichen Methoden, die dabei zur Anwendung kommen. Zum Beispiel werden wir aufgeklärt, wozu Feldsteine aus dem Feld gelesen werden und dürfen unseren Beitrag dazu leisten. Wenn wir Lust haben. Auch cool.
Ob diese Lösung ein Kompromiss nur zwischen ideologischen Ausrichtungen bleibt oder ob sie einen Weg weist real unterschiedlichen Bedürfnissen im Land entgegenzukommen?

Der Überblick über den greenway.

Die Anleitung und die Erklärung zu den Feldsteinen.

Mein Beruf, die «Traditionelle Chinesische Medizin» hat sich hier in Chengdu von einer vorwiegend von älteren und ärmeren Personen (sie ist immer noch kostengünstiger als Biomedizin) gesuchten Medizin zu einem Trend auch der Mittelklasse entwickelt um die Gebrechen eines urbanen Lebens anzugehen oder ihnen durch präventive Massnahmen vorzubeugen.

Werbetafel vor einer TCM Praxis: Um die «vier Hohen» (hoher Bludruck, hoher Blutzucker, hohe Blutfette, hohe Harnsäure), zu regulieren, wählen Sie unsere Praxis!

Dieses Mal begegnen mir in Chengdu praktisch keine anderen «nicht-gelbhäutigen» Menschen. Zwei Hände genügen, um sie zu zählen. Das ist ein deutlicher Unterschied zu vor vier Jahren. Die wenigen, die mir begegnen, sind vielfältiger als früher, ungefähr ein Drittel Schwarz-, ein Drittel Braun-, ein Drittel Weisshäutig.
Im Park der Wohnsiedlung am Rand des Universitätscampus, wo ich spaziere und manchmal am Wasser mein Taiji übe, hatte ich vor meiner Abreise folgenden Austausch: eine Mutter und ihre vielleicht 9-jährige Tochter liefen neben mir, vermutlich auf dem Heimweg von der Schule. Die Tochter bemerkte mich, ich lächelte ihr zu. Die Tochter fragte ihre Mutter daraufhin hörbar, warum die Ausländerin so lächle, worauf die Mutter antwortete, weil sie so glücklich ist in China sein zu können. Die Tochter fragte weiter, warum die Ausländerin (ich) denn so glücklich sei in China zu sein, worauf die Mutter entgegnete, weil es hier in China so sicher sei. Das brachte mich zum Lachen. Das Mädchen fragte daraufhin natürlich die Mutter, warum ich denn so lache, was diese damit begründete, dass sei, weil ich kein Chinesisch verstünde, und deshalb nicht wisse, was sie sagten. Nun platzte aus mir heraus, dass ich im Gegenteil eben deshalb lachte, weil ich verstünde was sie sagten. Und dass mein Land ebenfalls sicher sei, es mir aber in China gut gefalle, was mich auch hier glücklich mache. Bis dahin war diese Interaktion lustig. Dann fuhr ich vorwurfsvoll belehrend fort, es sei wichtig, kindliche Fragen aufrichtig zu beantworten und dafür auch selbst Fragen zu stellen, damit sie lernten selbstständig zu denken. — Hilfreich um ins Gespräch zu kommen? Hatte ich von dieser jungen Mutter erwartet, dass sie ihre Aufmerksamkeit in der knappen Zeit zwischen Abholen und Abendprogramm vom Kind hätte abwenden sollen? Um mir dann anzusehen, dass ich Chinesisch spreche? Dass sie mich daher hätte fragen können, ob ich tatsächlich aus den USA komme, dem «gewichtigsten» Land, von dem am Meisten berichtet wird, eben auch dass es kriminalitätsgeplagt sei? Dass ich so wichtig wäre?
So schnell geht das.
Differenzieren oder eben sich selbst reflektieren ist weniger naheliegend als pauschalisieren. Weniger einfach. Das ist mir leider nur allzu vertraut.

Oben: die Kehrseite des mit dem Velo unterwegs-seins. Unten: Die Kehrseite des mit dem Auto unterwegs-seins. Links: Ein Unterschied im Verhalten macht einen grossen Unterschied für die Umwelt. Mit wenig CO2 Ausstoss unterwegs zu sein ist sehr wichtig.

Die schnelle U-Bahn bringt mich ohne Halt bereits wieder zum Flughafen. Zum Abschied springt mir nochmal eine Werbung für umweltbewusstes Verhalten ins Auge. Es geht ums Unterwegs- Sein. Die Konsequenzen von Autofahren im Vergleich zu Velofahren werden darauf eindrücklich abgebildet. Publiziert hat dieses Plakat das Büro für den Aufbau geistiger Zivilisation der Stadt Chengdu. Die Botschaft des Plakates ist klar, unabhängig von den Absichten der Auftraggeber. Die Menschen, die es hier anschauen können, fahren heute alle zum Flughafen. Ich finde das Plakat trotzdem gut. Wir brauchen dringend und in jedem Fall Anregung zum Umdenken.

Warten. Am Übergang.
Wether artist or not, I am,
definitely in a floating world.

Wir schaukeln uns hoch. Wir kämpfen um die Wahrheitshoheit. Wir verwickeln uns in unsere Widersprüche. Wir begegnen uns unverständig. Und können uns trotz alledem immer wieder neu entdecken. Wir verrückten, wunderbaren, stoff-wechselnden, selber denkenden Wesen.
Wir sollten uns nicht vernichten.

Das ist mein grosser Haufen «Anekdoten», gesammelt in täglichem Erleben, beim Beobachten, in Gesprächen, beim Nachdenken als Besucherin im September 23 in Chengdu.

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